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Was ist Myasthenia Gravis?
Myasthenia Gravis ist eine chronische neuromuskuläre Erkrankung, die durch Schwäche und rasche Ermüdbarkeit der Skelettmuskulatur gekennzeichnet ist. Meist bessert sich die Muskelkraft durch eine kurze Ruhepause wieder erheblich. Die Muskelschwäche beruht auf einer Störung der Übertragung von Nervenimpulsen auf die Muskelzellen.
Die Myasthenie ist keine Erbkrankheit, wie die meisten anderen Muskelkrankheiten, sondern eine Erkrankung des Abwehrsystems. Die Krankheit ist nicht ansteckend. Allenfalls besteht in der Familie eines Patienten ein erhöhtes Risiko für Autoimmunerkrankungen. Insgesamt gilt die Myasthenia Gravis mit einer Häufigkeit von bis zu sechs Patienten auf 100‘000 Personen als seltene Erkrankung. Medizinisch spricht man von einer Autoimmunerkrankung, d.h. eine Erkrankung, bei dem sich das körpereigene Immunsystem gegen die Eiweisse des eigenen Körpers wendet.
Die Krankheit ist heute häufig so weit zu bessern, dass keine nennenswerten Symptome bestehen bleiben. Voraussetzung dafür ist, dass sie früh diagnostiziert und mit allen verfügbaren Therapieverfahren in optimal aufeinander abgestimmter Weise behandelt wird.
Symptome
Die Myasthenie kann sich verschiedenartig äussern. In der Mehrzahl der Fälle ist das erste Symptom das Sehen von Doppelbildern infolge einer Schwäche der Augenmuskeln. Oft besteht auch eine Schwäche der Augenlider (Ptose), die einseitig oder beidseitig auftreten kann. Bei einem Teil der Patienten bleibt dies über Jahre das einzige Symptom.
Schwieriger wird die Diagnose, wenn Sprech- oder Schluckstörungen das einzige Zeichen sind, oder wenn eine uncharakteristische Muskelschwäche des Körpers auftritt. Dabei können häufiges Hinfallen, Schwäche beim Treppensteigen oder beim Aufrichten aus liegender und sitzender Stellung oder eine Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit insgesamt Zeichen der Erkrankung sein.
Wenn die Gesichtsmuskeln betroffen sind, verändert sich auch die Mimik. Sie erscheint dann spannungslos, was oft als Traurigkeit und Müdigkeit verkannt wird. Insbesondere wirkt das Lachen unnatürlich. Alle Symptome treten ganz unterschiedlich stark auf, aber im Tagesverlauf zunehmend. Selten kommt es innerhalb weniger Wochen zu einer so erheblichen Muskelschwäche, dass Schlucken, Gehen und sogar die Atmung beeinträchtigt werden. Die Muskelschwäche kann sich über wenige Tage oder Wochen entwickeln und in ihrer Ausprägung monatelang schwanken. Sie kann sich sogar nach einer kurzen Krankheitsphase weitgehend zurückbilden. Es kann aber auch zu einer allmählich fortschreitenden Minderung der Muskelkraft kommen. Die Schwäche kann im Laufe des Tages stark schwanken, insbesondere nimmt sie oft nach körperlicher Belastung sowie gegen Ende des Tages zu. Schon nach kurzer Erholungszeit kann eine deutliche Verbesserung der Muskelschwäche bemerkt werden, so zum Beispiel beim Warten im Wartezimmer des Arztes.
Die Erkrankung kann Menschen jeden Alters und Geschlechts befallen. Lange wurde die Myasthenie als Krankheit jüngerer Frauen angesehen. Heute weiss man jedoch, dass die meisten Patienten erst nach dem 50. Lebensjahr erkranken und dass Frauen dreimal häufiger als Männer gleichen Alters erkranken. Die Häufigkeit der Myasthenie nimmt in der Bevölkerung zu. Diese Zunahme erklärt sich aus der zunehmenden Alterung der Bevölkerung. Äussere Faktoren, wie psychischer Stress oder Infektionskrankheiten, können eine Myasthenie nicht verursachen, aber durchaus als Mitauslöser für eine Verschlechterung der Symptome in Frage kommen.
Die Rolle der Thymusdrüse
Bei einigen Patienten findet sich eine Vergrösserung der Thymusdrüse, die im Brustkorb hinter dem Brustbein liegt. Der Thymus ist ein wichtiger Teil des Immunsystems. In der Regel ist er im Kindesalter voll entwickelt und bildet sich dann bis zum Erwachsenenalter zurück. Die Thymusvergrösserung, die bei einzelnen Myastheniepatienten auftreten kann, ist in den allermeisten Fällen gutartig, nur selten kommt es zu echten (gutartigen und noch viel seltener bösartigen) Geschwülsten. Es ist noch nicht geklärt, welche Bedeutung der Thymus für die Entstehung der Myasthenie besitzt. Die Thymusdrüse produziert nur einen kleinen Teil der für die Krankheit verantwortlichen Autoantikörper, hat aber wahrscheinlich einen regulierenden Einfluss auf die Aktivität des Immunsystems. Eine operative Entfernung der Thymusdrüse führt in vielen Fällen zu einer Besserung des Krankheitsbildes.
Ursache
Die Symptome der Myasthenie werden durch eine Störung in der Übertragung von Nervenimpulsen auf die Muskelzellen verursacht. Gehirn und Nerven selbst sind nicht betroffen. Bei allen Bewegungs- und Haltefunktionen unseres Körpers sind Muskelkontraktionen nötig. Der Befehl zu einer Kontraktion wird den Muskelzellen vom Gehirn über das Rückenmark und die sogenannten motorischen Nerven erteilt. Bei Befehlserteilung setzen die Endigungen der motorischen Nerven einen Überträgerstoff, das Azetylcholin, frei, der zu den Muskelzellen diffundiert und dort auf spezielle Rezeptoren trifft. Die Verbindung von Azetylcholin mit dem Rezeptor bewirkt dann die Muskelanspannung. Bei der Myasthenie ist die Zahl der verfügbaren Azetylcholin-Rezeptoren vermindert. Die Ursache für diese Verminderung sind fehlgesteuerte Aktivitäten des körpereigenen Abwehrsystems (Immunsystem), das fälschlich Antikörper gegen Azetylcholin-Rezeptoren produziert, welche diese Rezeptoren zerstören.
Die Erkenntnis dieser Fehlsteuerung hat dazu geführt, dass man heute die Myasthenie als Autoimmunkrankheit bezeichnet, d.h. eine Erkrankung, bei der sich das körpereigene Immunsystem gegen spezifische Eiweisse des eigenen Körpers richtet. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis wurden die modernen Therapieverfahren der Myasthenia Gravis entwickelt. Leider ist bisher unbekannt, welche Faktoren die fehlgesteuerte Reaktion des Immunsystems auslösen.
Diagnosestellung
Der Verdacht auf eine Myasthenia Gravis Erkrankung ist dann begründet, wenn bei bestimmten Bewegungen vorzeitig eine Muskelschwäche eintritt. Zur Bestätigung wird dann der sog. Tensilon-Test durchgeführt. Tensilon® (Edrophoniumchlorid) ist ein Medikament, das die Impulsübertragung vom Nerv auf den Muskel bessert. Wenn es in die Armvene eingespritzt wird, kommt es zu einer vorübergehenden Besserung der Muskelkraft, die allerdings höchstens eine halbe Stunde anhält.
Die Diagnose wird mit Hilfe des Stimulations-EMG gesichert: Bei wiederholter elektrischer Reizung eines Nervs kommt es in dem dazugehörigen Muskel zu einer zunehmenden Erschöpfung der elektrischen Muskelantwort. Beweisend für eine Myasthenia Gravis sind im Blut nachweisbare Antikörper gegen die Impulsübertragungsstelle vom Nerv auf den Muskel, die sogenannte motorische Endplatte. Wenn die Diagnose einer Myasthenia Gravis gestellt worden ist, wird mit Hilfe einer Computertomographie oder einer Magnetresonanztomographie (MRT) die Thymusdrüse untersucht.
Therapeutische Massnahmen
Die Behandlung der Myasthenie besteht in der Anwendung verschiedener Medikamente und in der Entfernung der Thymusdrüse. Je nach Schweregrad, Erkrankungsdauer und Alter eines Patienten kommen entweder das eine oder das andere oder aber eine Kombination dieser Verfahren in Frage. Bei sorgfältiger Auswahl des Therapieverfahrens sollte für jeden Patienten ein beschwerdefreies Leben möglich werden. Dies gilt nicht nur für die Erstbehandlung, sondern auch für die Therapie später auftretender Verschlechterungen oder Rückfälle nach beschwerdefreier Zeit. Diese optimistische Einschätzung der Therapieerfolge ist sicher vielen Patienten noch gar nicht bekannt.
Medikamente, welche die Übertragung der Nervenimpulse auf die Muskelzellen beeinflussen:
- Zur Hemmung des Abbaus von Acetylcholin: z.B. Mestinon®
- Zur Dämpfung des Abwehrsystems: z.B. Kortison, Azathioprin (Imurek®), Mycophenolat Mofetil (Cellcept®)
- Zur Umstimmung des Abwehrsystems: operative Entfernung der Thymusdrüse
- Zur Krisenintervention: Plasmaspherese (Blutwäsche), intravenöse Immunglobuline (IVIG)
Eine tiefgreifende, aber einmalige Therapieform ist die operative Entfernung der Thymusdrüse. Dabei wird heutzutage der Thymus nach einer Durchtrennung des Brustbeines vollständig entfernt. Bei etwa einem Drittel der Patienten, besonders jüngeren, mässig stark betroffenen Patienten mit erst kurzem Krankheitsverlauf ist nach diesem Eingriff eine erhebliche Besserung zu erwarten. Bei einem weiteren Drittel tritt eine spürbare, aber nicht immer befriedigende Besserung ein, die auch nicht auf Dauer anhalten muss. Bei dem verbleibenden Drittel der Patienten findet man keinen Behandlungserfolg.
Seit Anfang der 60er Jahre werden immunsuppressive Medikamente eingesetzt, welche die fehlgesteuerte Autoimmunreaktion gegen Azetylcholin-Rezeptoren wirksam und nachhaltig bremsen. Als unerwünschte Begleitreaktion der Behandlung werden auch andere Teile des Immunabwehrsystems gehemmt. Nach den langjährigen Erfahrungen sind die damit verbundenen Nebenwirkungen meist so gering ausgeprägt, dass das damit verbundene Risiko mit dem erwünschten Behandlungserfolg bei der Myasthenie gerechtfertigt ist. Die langfristig wirksamen Medikamente aus der Gruppe der Immunsuppressiva haben heute dazu geführt, dass die Präparate aus der Familie der Kortisonabkömmlinge nur vorübergehend initial und nur in schwereren Krankheitsfällen dauerhaft eingesetzt werden müssen.
Die Therapie mit Plasmaspherese (Blutwäsche)
Nachdem bekannt war, dass die Muskelschwäche durch Autoantikörper gegen Azetylcholin-Rezeptoren bewirkt wird, hat man versucht, diese Antikörper rasch aus dem Blutplasma zu entfernen. Dies geschieht heute auf weitgehend risikolose Weise mit der Plasmaspherese Therapie. Dabei wird das Patientenblut mit einer Blutzentrifuge oder einem speziellen Blutfilter in die Blutzellen und das Blutplasma aufgetrennt. Der die Antikörper enthaltende Teil des Blutplasmas wird entfernt und durch Plasmaersatzflüssigkeiten wieder ausgeglichen. Bei modernen Verfahren können die Autoantikörper in besonders hohem Masse (selektiv) aus dem Plasma herausgefiltert werden. Die Plasmaspherese Behandlung ist wegen des hohen personellen und technischen Aufwandes für ganz schwere Krankheitsverläufe, wie die myasthenische Krise (s.u.) reserviert, sowie für die wenigen Patienten, die mit den oben genannten Behandlungsverfahren nicht gebessert werden können. Natürlich ist auch die Plasmaspherese mit einem gewissen, wenn auch geringen Risiko verbunden.
Physiotherapie
Die Physiotherapie hat insbesondere Bedeutung für schwerer erkrankte Patienten, vor allem solche mit Atemstörungen. Wenn die Behandlung zu einer vollständigen oder fast vollständigen Beschwerdefreiheit geführt hat, ist eine physiotherapeutische Behandlung nicht erforderlich. In diesem Zustand sollte sich ein Myastheniker körperlich und sportlich soweit betätigen, wie es seine Kraft und Ausdauer zulassen. Ein Aufbautraining ist dann besonders wichtig, wenn ein Patient infolge der Myasthenie längere Zeit körperlich inaktiv sein musste. Eine Überbeanspruchung ist beim Myastheniker genauso zu vermeiden wie beim gesunden Menschen. In der Regel benötigt der ausreichend behandelte Myastheniker keinerlei technische Hilfsmittel für den Alltag. Im Einzelfall sollte auch hierzu ein in der Myasthenie-Behandlung erfahrene Arzt zu Rate gezogen werden.
Myasthenische Krise
Eine myasthenische Krise tritt dann auf, wenn die Symptome der Muskelschwäche so stark zunehmen, dass die Schluck- und Atemmuskeln ihre Funktionen nicht mehr erfüllen können. Vor der Zeit der modernen Myasthenie Therapie kam es relativ häufig zu solchen Krisen, heute sind sie glücklicherweise sehr selten geworden. Obwohl äussere Faktoren, wie Infektionen, Hormonstörungen und seelischer Stress eine Krise mit auslösen können, liegt die eigentliche Ursache doch immer in einer Zunahme der Aktivität des Autoimmunprozesses, die durch frühzeitig einsetzende Therapie aufgefangen werden sollte. Ist es einmal zur Krise gekommen, so ist eine sofortige intensive Behandlung in einer auf die Myasthenie-Behandlung spezialisierten Klinik nötig. Die früher ebenfalls häufiger auftretende cholinerge Krise sollte heute nicht mehr vorkommen. Sie beruhte darauf, dass während einer Verschlechterung der Myasthenie zu hohe Dosen von Mestinon®, Prostigmin oder Mytelase® (die besonders lange im Körper verweilt) eingenommen wurden, die schliesslich zu ernsten Überdosierungserscheinungen führten.
Medikamente, die eine myasthenische Muskelschwäche verstärken können
Es gibt eine ganze Reihe von Medikamenten, z.B. Magnesiumpräparate, die zu einer Beeinträchtigung der Übertragung von Nervenimpulsen auf den Muskel führen können. Die meisten Ärzte sind der Ansicht, dass diese Medikamente Myasthenie-Patienten nicht, oder nur unter besonderen Umständen gegeben werden sollten. Bei leichter, auch generalisierter Myasthenie ist diese Furcht sicher nicht berechtigt. Dies gilt z.B. für die Anwendung der Lokalanästhesie (örtliche Betäubung) im Rahmen von Zahnbehandlungen. Im Zweifelsfalle sollte man einen in der Myasthenie-Behandlung erfahrenen Arzt fragen.
Stand der Forschung
In den vergangenen 15 Jahren wurde in allen Industrienationen der Welt die Erforschung der Grundlagen und Ursachen der Myasthenia Gravis nachdrücklich betrieben. In den USA wurde die Forschung ganz wesentlich durch die nationale Muskeldystrophie-Gesellschaft (Muscular Dystrophie Association) gefördert. Auch in Deutschland und der Schweiz entstanden öffentliche Forschungsförderungseinrichtungen (wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft DGM, Telethon und die Schweizerische Stiftung zur Erforschung der Muskelkrankheiten fsrmm) die auch als Geldgeber aufgetreten sind.
Das Ziel der aktuellen Forschung ist, möglichst noch besser wirksame und nebenwirkungsärmere Medikamente zu entwickeln, die die Behandlung der Erkrankung verbessern.
Quelle: Eine Broschüre der Schweizerischen Muskelgesellschaft
Copyright 3. Auflage (08/2011)
Herzlichen Dank der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V. für die Kooperation und Dr. med. Dirk Fischer für die wissenschaftliche Überarbeitung.